Bericht vom Kendo Summer Seminar 2019 in Amsterdam

Tag 1:

06:00 Uhr – der Wecker klingelt – nicht meine Zeit.
Die Koffer sind gepackt, die Shinais sind frisch geölt, Gi und Hakama riechen nach Aprilfrische und Frühlingswiese, alle Bügelfalten messerscharf.
Ich frage mich, warum ich zwei Koffer für einen Wochenend-Trip brauche und bereite mich auf das Lästern meiner 3 Mitstreiter vor.
Um 7:30 Uhr geht’s auf nach Amsterdam zum Kendo Summer Seminar 2019. Das Lästern kommt wie erwartet.

Wir kommen (fast) pünktlich im Olympiazentrum an.
Circa 150 – 200 blau gekleidete Menschen meditieren in einer großen Sporthalle mucksmäuschenstill vor sich hin.
Sagenhaft, wie wenig Geräusche so viele Leute machen können – muß ich unbedingt zuhause den Nachbarskindern erzählen.
Auf den Zekken der Teilnehmer liest man Dublin, Lausanne, Den Haag, St. Petersburg, Hamburg, Kuwait, Canada u.a.,
also ein Who-is-Who des internationalen Kendo. Mit den 7. Dan-Senseis ist das obere Ende der Kendo-Weisheit markiert.
Ich befinde mich da mit meinem 3. Kyu eher am unteren Ende der Karriereleiter. – Egal – keine Angst vor großen Tieren, ich bin dabei!

Cut!

Zu Beginn des eigentlichen Trainings werden 4 Gruppen gebildet – je nach Qualifikation.
Die Verkehrssprache ist Englisch – was allerdings angesichts des Höllenlärms der Kiais bedeutungslos wird.
Irgend eine Gruppe brüllt immer, i.d.R. verstehe ich kein Wort – egal, in welcher Sprache.

Viel Zeit verbringe ich damit, in falschen Gruppen auf meinen Einsatz zu warten oder in richtigen Gruppen die falsche Technik zu üben.
Nein, ich leide nicht unter Konzentrationsschwäche oder Schwerhörigkeit.
Es bleibt mir aber bis heute ein Rätsel, wie andere Teilnehmer sich zurechtfinden.
Am Ende der Unterweisungen antwortet die Gruppe unisono mit einem donnernden „HAI“ – heißt soviel wie
„Ich weiß zwar nicht, worum es geht, mache aber gerne mit“. Japanisch ist eine rätselhaft Sprache.
Meine Strategie: Alle Übungen einen Sekundenbruchteil später anzufangen und erst einmal sehen, was die anderen machen –
(„When in Rome, do as the Romans do“).

Grundübungen.

Ich stehe einem Kendoka aus Dublin gegenüber.
Nach bekannten Begrüßungsritualen ein markerschütternde Schrei. Ich brülle zurück.
Sekundenbruchteile später verspüre ich einen stechenden Schmerz im rechten Unterarm und höre knapp an der Hörgrenze ein fieses „Zinnnnnggggg“ in meinem Men.
Mein Gegenüber ist verschwunden.
Ich drehe mich um – schon wieder dieser Schmerz und dieses fiese „Zinnnnnggggg“. Aus den Augenwinkeln sehe ich dieses Mal einen Schatten vorbeihuschen.
Ich drehe mich wieder um – der gleiche Effekt – Schmerz, „Zinnnnnggggg“, Gebrüll.

„Kote-Men“ – der japanische Ausdruck für „huschender Schatten macht „Zinnnnnggggg“ und tut im rechten Unterarm weh“.
Das Japanische bringt es wirklich mit kurzen Worten auf den Punkt.

Nach zwei Stunden Training wird es „kuschelig warm“ in der Halle. Von einem Nachbarn höre ich: „I feel like popcorn in a microwave“.
Ich weiß, was er sagen will. Eifriges Nicken von allen Umherstehenden.

Sensei lessons.

Man stellt sich in eine Reihe zu anderen Kendokas und wartet auf eine Personal Lesson eines Senseis.
Als ich an die Reihe komme, gebe ich mein Bestes. Bin überrascht, wie leicht es doch ist, bei einem 7. Dan einen Treffer zu landen.
Ich fühle mich wie ein kleiner König, stelle aber bald fest, dass der Treffer mir lediglich gestattet wurde.
Ich ernte ein mehrfaches „Zinnnnnggggg“ vom Sensei.

Um 17:30 Uhr ist Feierabend. Wir können die Rüstungen über Nacht in den Umkleiden lassen.
Schnell duschen (Handtuch vergessen – Tenugi als Ersatz, triefnass in die Straßenklamotten), schnell ins Hotel und dann in das Nachtleben von Amsterdam stürzen.
Den Gesprächen beim Essen folge ich nur noch rudimentär. Ständig fallen mir die Augen zu und ich freue mich auf mein Bett.

Tag 2:

Die Umkleiden riechen nach Pumakäfig auf aprilfrischer Frühlingswiese.
Ich bin froh, meine Rüstung in der Halle gelassen zu haben. Im Hotel hätte ich damit Hausverbot bekommen.
Die Kleidung ist vom Schweiß des Vortages immer noch klatschnass. Deo und Aprilfrisch haben leider den Härtetest nicht bestanden.
In meinen Kote hat sich ein unangenehm klebriger Schmierfilm gebildet.
Überflüssig, zu erwähnen, dass das Dress-up heute früh zu den eher unangenehmen Aktivitäten gehört.

Wieder diese Grundübungen – ich muß unbedingt herausfinden, die blauen Flecken meines Gegenübers als Trefferfläche zu lokalisieren.
Meine Partner haben das jedenfalls zur Perfektion vollendet.
Wohlbefinden definiert sich für mich anders.

Anschließend: Ji-Geiko

Toll. Nach 4 – 5 Ji-Geikos geht mir langsam die Puste aus und ich will mich unauffällig zurückziehen.
Schon steht wieder jemand vor mir und fordert mich mit einem freundlichen „onegai shimazu“ zum Tanz.
Na gut – dieses einem Mal kann ich ja noch mitmachen.
Nach Ende dieses Ji-Geikos steht wieder jemand vor mir – „onegai shimazu“.
Hilfe!!! Ich finde mich in einer Zeitschleife wieder.

Am Ende der Session kann ich meine Arme kaum noch heben.
Meine Fußarbeit ist zu einem Schlurfen geworden.
Aber es hat Spaß gemacht.

Abends: Sayonara-Party

Ein kurzer Spaziergang durch die City von Amsterdam. Es ist Christopher-Street-Day.
Die Luft ist erfüllt von bewußteinsverändernden Gerüchen. Alle grinsen beseelt vor sich hin.
Alles ist bunt, jeder hat eine Perücke auf oder mindestens einen Pailletten-Anzug an.
Wir fallen in unseren tristen Alltagsklamotten auf.

Das japanische Restaurant ist der Knüller.
Unzählige kleine Köstlichkeiten bis zum Abwinken.
Bei all meiner Skepsis vor zu viel Reis bin ich zum Fan japanischen Essens geworden.

Tag 3:

Die Umkleiden riechen nach einem Puma, der auf einer aprilfrischen Frühlingswiese verendet ist.

Shinpan-Lesson (Wettkampfrichter – Theorie).

Eine Menschentraube bildet sich um einen Sensei – es ist Shinpan Lesson (bin ich in der richtigen Gruppe???).
Total spannend – besonders, da mir das Bewertungs- und Punktesystem des Kendo bisher ein Rätsel geblieben ist.
Der Sensei erklärt auf japanisch sehr detailliert, wie Profis einen Kampf bewerten. Toll!
Gespannte Erwartung auf die Übersetzung. Gerade, als der Übersetzer seinen Job beginnt, dröhnt aus der anderen Ecke der Halle ein gemeinschaftliches Kiai.
Ich schalte auf visuelle Wahrnehmung um. Sensei und Übersetzer gestikulieren voll Eifer, um ihre Ausführungen zu verdeutlichen.
Irgend etwas mit Dreiecken scheint wohl von Bedeutung zu sein.
Am Ende der Übersetzung brülle ich „HAI“.

Anschließend: Shinpan-Training (Praxis)

A) Ich bin ein Demo-Objekt
Ich stelle mich als „zu bewertendes Objekt“ zur Verfügung.
Mein Gegenüber und ich schreiten auf die Wettkampffläche.
Abhocken – Kiai -Radadazong – Job done.
Abgang als Looser.

B) Ich bin ein Demo-Subjekt
Ich stehe als Kampfrichter am Rand der Kampffläche.
Zu beurteilen: Ein zwölfjähriges Kind gegen einen gestandenen Erwachsenen.
Radadadazong – die Zwölfjährige hat den Erwachsenen abserviert.
Ich gebe den entscheidenden Punkt.
Macht irgendwie Spass.

Fazit:

Der Aufwand, eine solche Veranstaltung perfekt auf die Beine zu stellen, läßt sich wohl kaum erahnen.
So ist allen Senseis, Organisatoren und Helfern für ihre Arbeit sehr zu danken. Ihr habt einen tollen Job gemacht.
Ich habe jede Minute des Seminars genossen (auch wenn obiger Text manchmal etwas ironisch ‚rüberkommt).

Das Timing, die Location und die einzelnen Sensei-Sessions waren einfach perfekt.

Besonderer Dank an die Lehrer

Kawakami Arimitsu sensei
Sakamoto Takashi sensei
Murakami Raita sensei
Kanda Tomohiro sensei

für ihre freundlichen Unterweisungen. Ich habe sehr viel bei diesem Seminar gelernt.

Und natürlich vielen Dank an Zeynep für ihren unermüdlichen Fahrdienst.

Kendo Seminare sind irgendwie wie Wacken Open Air – nur ohne Musik.
Jeder stöhnt über die Gegebenheiten, aber am Ende hatte jeder seinen Spaß und man verabredet sich für die Veranstaltung im nächsten Jahr.

Gerd